„Wir hatten gehofft, ein paar Wale zu sehen…“ „Dann macht Eure Planung keinen Sinn. Ihr werdet lange paddeln und nichts sehen, das größer als ein Seehund ist. Europäer“, so lernen wir, „paddeln weite Strecken, um etwas zu sehen. In Kanada zählt die Zeit auf dem Wasser. Dort wartest Du, bis die Natur zu Dir kommt.“ Und unser Kajak-Verleiher hat Recht. Die Natur kommt in der Johnstone Strait an der Nordküste von Vancouver Island. Wir nehmen uns seine Empfehlungen und Tipps zu Herzen und werden in den nächsten Tagen viel Natur erleben. Einen weiteren wichtigen Punkt nehmen wir auch gleich noch mit, als ich nach einem Tidenkalender frage, um unseren genauen Startzeitpunkt zu planen. Tide und Strömung sind hier vor Ort nicht identisch, laufen sogar entgegengesetzt. Jeweils bei Hochwasser und Niedrigwasser ist die Strömung an den Passagen zwischen den Inseln am größten – bis zu 10 Knoten, wie uns der Strömungskalender verrät. Und genau dann ist dort die höchste Wahrscheinlichkeit, Wale bei der Jagd zu treffen. Mit diesem Wissen im Gepäck und einer Handvoll guter Zeltplätze vor Augen geht es los.
Als wir die Bucht von Telegraph Cove verlassen, bietet sich ein Anblick, der uns die nächsten Tage über begleiten wird. Wo eben noch eine Gruppe von Inseln lag, ist jetzt eine dichte Suppe aus Nebel. Der soll hier im September morgens üblich sein. Das wiederum ist glatt gelogen. An Tageszeiten hält er sich definitiv nicht und arbeitet mindestens auf einer Vollzeitstelle. Lange Querungen vermeiden wir daher zunächst und hangeln uns von Insel zu Insel. Wie in Zukunft häufiger sind es auch jetzt die Geräusche, die uns auf die Meeresbewohner hinweisen. Ein ziemlicher Lärm umgibt eine Felseninsel, auf der sich eine große Kolonie von Seelöwen niedergelassen hat. Vor der Insel gibt es immer wieder ein lautes Schnaufen und Prusten aus dem Wasser, sodass wir schon glauben, unseren ersten Wal vor dem Bug zu haben. Es stellt sich jedoch heraus, dass Seelöwen nahezu die gleichen Geräusche von sich geben – nur eine Spur leiser. Auch vor unserem ersten Übernachtungsplatz zieht abends ein Seelöwe solange seine Runden, bis für uns das Schnaufen fast selbstverständlich geworden ist. Als es jedoch irgendwann von der anderen Seite der Insel kommt, wagen wir doch einen Blick um die Ecke und sehen, dass wir beinahe unsere erste Walsichtung verpasst hätten. Dort taucht eindeutig kein Seelöwe auf und ab, sondern ein viel größerer Meeressäuger. Leider verschwindet er jedoch nur allzu bald im dichter werdenden Nebel.
Am nächsten Morgen und bei wesentlich besserer Sicht ist der Trubel vor unserer Insel umso größer. Immer wieder „stören“ uns Wale bei den üblichen Morgenbeschäftigungen. Zwei Grauwale tauchen immer wieder auf und ab. Nachdem sie endlich weiter gezogen sind, können auch wir zu Ende frühstücken und in unseren Kajaks eine entspannte Tagestour durch die westlichsten Inseln des Broughton Archiopelago angehen. Der ein oder andere Seehund beäugt uns erst misstrauisch, beschließt dann aber doch, sich lieber weiter faul treiben zu lassen. Irgendwann ziehen wir die Aufmerksamkeit eines Delphins auf uns, der vor und hinter uns auf und ab taucht. Das Wasser ist so klar, dass man ihn unter uns hindurch tauchen sehen kann. Nachdem er sich verzogen hat, geht es für uns weiter, nur um zwischen den nächsten Inseln eine ganze Gruppe von Delphinen zu sehen. Hier ist die Strömung stärker und die Herde jagt offensichtlich. Wir lassen uns treiben und genießen das Schauspiel. Es gelingt sogar der ein oder andere gute Schnappschuss. Als wir auf dem Rückweg kurz vor unserer Insel ankommen, erleben wir das erste Mal einen Wal aus ziemlicher großer Nähe. Ein Buckelwal taucht immer wieder auf und ab und beginnt irgendwann mit der Schwanzflosse auf das Wasser zu schlagen. Ein wenig mulmiger wird uns, als er irgendwann in unsere Richtung abdreht und keine zwanzig Meter vor unseren Booten auf- und wieder abtaucht. An Land angekommen, werden wir obendrauf noch Zeuge eines besonderen Schauspiels. Zwischen den Inseln bilden sich plötzlich eigenartige Wellen. Diese, stellt sich heraus, sind in Wirklichkeit mehrere Dutzend Delphine, die hintereinander in Reihe in die Bucht schwimmen. Dort angekommen schwimmen sie ab jetzt parallel nebeneinander und gehen in Formation auf die Jagd. Gegen diese Gruppe ausgeklügelter Strategen dürfte ihre Beute wenig Chancen haben. Pünktlich zum Sonnenuntergang krönen noch zwei weitere Buckelwale unseren Tag, die in der Passage offenbar umeinander buhlen, indem sie auf und ab springen. Der Hall sorgt zwischen den Inseln dafür, dass das Klatschen klingt wie Silvesterfeuerwerk. Nachdem die gestrige Sichtung nett war, aber keinen großen Eindruck hinterlassen hat, besteht heute Einigkeit über die Erhabenheit der hiesigen Meeresbewohner.
Auch der nächste Tag hält einiges an Natur bereit. In den letzten Tagen haben wir immer viel dafür getan, keine Bären anzulocken. Heute haben wir das Glück, vom Boot aus einen am Strand beobachten zu können. Leider zieht immer wieder Nebel auf, sodass wir Wale zwar immer wieder hören – vor allem die „Pfeiftöne“ der Buckelwale. Zu sehen sind sie allerdings nur selten. Einzig am Abend beginnt ein Buckelwal direkt vor unserer Insel auf und ab zu springen. Vor der Kulisse der Inseln gibt das ein beeindruckendes Bild ab. Irgendwann zieht aber auch heute der Nebel wieder zu und es weisen nur noch die Geräusche auf das muntere Treiben des Wales hin.
Auf der Rücktour zum Ausgangspunkt erwischt uns endgültig der Nebel. An beiden Paddeltagen ist er häufig so dicht, dass wir soweit es geht unter Land bleiben und die Passagen so kurz wie möglich halten. Durch die Strömung sind wir aber zeitlich einigermaßen festgelegt, sodass wir sie irgendwann doch angehen müssen. Als Orientierung für Richtung und Vorhaltewinkel bleibt uns nur die Sonne, die an Backbord durch den milchigen Nebel scheint. Jetzt sorgen die Geräusche der Wale im Nebel eher für eine gespenstische Stimmung. Nach sicherer Ankunft im Hafen von Telegraph Cove bleibt die Erinnerung an beeindruckende Naturerlebnisse – trotz oder gerade wegen des Nebels.