Ist ein Grönlandpaddel nicht zu klein?

Als ich mein teilbares Grönlandpaddel aus Carbon beim Zoll abholen musste, war es schon ein gewisser Aufwand, dem (sehr freundlichen und gelegenheitspaddelnden) Zöllner glaubhaft zu machen, dass der Inhalt überhaupt ein Paddel ist. Auf dem See ist die häufigste Frage, ob denn dieser dünne Stock überhaupt groß genug ist, um genug Vortrieb oder beim Stützen ausreichenden Auftrieb zu erzeugen.

Mathematik

Um diese Frage auch für mich messbar zu beantworten, habe ich zu Maßband und Taschenrechner gegriffen. Deutlichster Unterschied ist, dass das Blatt vom Grönlandpaddel zwar schmaler, aber gut doppelt so lang ist wie das des Europaddels. Meines taucht beispielsweise beim Grundschlag ca. 75 Zentimeter tief ein. Bei einer Breite von 6 Zentimetern in Schaftnähe und 8 Zentimetern am äußeren Ende ergibt dies zirka 525 Quadratzentimeter an Paddelfläche. Beim Gleitschlag (“sliding stroke”) entsteht durch das tiefere Eintauchen zusätzliche Paddelfläche, sodass etwa 550 Quadratzentimeter zusammenkommen. Verglichen mit meinem Europaddel, dem Werner Kalliste und seinen 650 Quadratzentimetern, sind dies tatsächlich 15 bis 20 Prozent weniger Paddelfläche.

Physik

Die bloße Fläche ist aber noch lange nicht alles. Beim Grundschlag muss das Paddel so im Wasser verankert werden, dass sich der Paddler förmlich daran entlang ziehen kann. Diese „Verankerung“ („catch“) ist Ergebnis aufeinander abgestimmter Technik und Paddelform. Je größer die Fläche, desto weniger ist die Technik entscheidend. Wenn ich die Deckel von zwei Mülltonnem am Paddel befestige, habe ich natürlich allein durch die Fläche eine gute Verankerung. Eine kleinere Fläche kann durch Technik ausgeglichen werden – vor allem durch das Anwinkeln des Grönlandpaddels („canted stroke”). Das führt im Ergebnis zu einer vergleichbar guten Verankerung. Zudem wird das Grönlandpaddel regelmäßig mit höherer Frequenz gefahren.

Geschichte

Dass Grönlandpaddel so schmal sind, ist übrigens nicht der Tatsache geschuldet, dass den Inuit mangels geeigneten Treibholzes keine breiteren Holzstücke zur Verfügung standen, wie häufig vermutet wird.

„Die dünnsten Kajak-Paddel, die ich je gesehen habe, gehörten einigen Eskimo […], die in einer Region lebten, die so ausreichend bewaldet war, dass sie mit dem Holz einen kleinen Schoner gebaut hatten.“ (Eigene Übersetzung von Murdoch, The Ethnological Results of the Point Barrow Expedition, 1892)

Die Form basiert vielmehr auf praktischen Erwägungen: das Paddel ist genau so dimensioniert, dass der Paddler es an jeder Stelle sicher greifen kann, was sehr effizientes Rollen & Steuern erlaubt. Interessant ist zudem die Aufstellung in Harvey Goldens „Kayaks of Greenland“. Während sehr frühe Grönlandpaddel sogar eine ähnliche Form wie Europaddel hatten, hat sich das Paddel in vierhundert Jahren Entwicklungsgeschichte zu dem entwickelt, was wir heute als Grönlandpaddel kennen.