Mit einigem Respekt, aber vor allem viel Vorfreude habe ich dem Hiddensee-Marathon des Stralsunder Kanu-Club entgegengefiebert. Heute ist es nun endlich soweit. Die Nacht sind einige Schauer über die gut gefüllte Zeltwiese der Stralsunder Paddler gezogen. Pünktlich zum allgemeinen Aufstehen um vier Uhr morgens hört der Regen allerdings auf. Das geschäftige Treiben geht los und letzte Vorbereitungen werden allseitig getroffen. Insbesondere ein vernünftiges Frühstück muss als Grundlage her, auch wenn das in der frühen Morgenstunde ziemlich schwer fällt. Das war mein wichtigster Trainingsaspekt seit ich beim 1000-Seen-Marathon im letzten Oktober einen ziemlichen Hungerast hatte. Heute geht es mir vor allem um’s Ankommen aus eigener Kraft. Pünktlich um sechs Uhr ist das Teilnehmerfeld auf dem Wasser und es geht los. Über Boddengewässer und Ostsee soll es einmal um Hiddensee herum zurück zum Bootshaus in Stralsund gehen – ziemlich genau 70 Paddelkilometer. Schon die Streckenlänge macht es recht anstrengend, Wind und Wellen tuen ihr übriges. Angesagt sind für heute ideale Bedingungen mit ablandigem Wind aus Süd-Ost, der später sogar auf Nord-West drehen soll – das hieße die gesamte Zeit Rückenwind. Hieße…
Ich paddle eines von zwei Booten ohne Steuer und trete als einziger mit einem Grönlandpaddel an. Das bringt den ein oder anderen fragenden Kommentar mit sich. Direkt nach dem Start zieht sich das Feld auseinander. Insbesondere die zahlreichen Zweier und Wingpaddel-Fahrer setzen sich schnell ab. Ich orientiere mich, wie nicht anders zu erwarten, am hinteren Ende. Meine GPS-Pulsuhr läuft wie gewohnt mit. Vorgenommen hatte ich mir, recht konstant zwischen 140 und 150 Herzschlägen pro Minute zu fahren. Beim Versuch mitzuhalten, steigt mein Puls aber in Spitzen bis auf 170. Eigentlich bin ich also viel zu schnell für meine Verhältnisse. Da mich vor allem, der erste Meldepunkt im Vorfeld nervös gemacht hat, will ich aber den Anschluss nicht verlieren: nach drei Stunden muss ich die Ostsee erreichen, sonst werde ich aus dem Rennen genommen und zurückgeschickt. Also geht es ein wenig überambitioniert hinter zwei Einern und einem Zweier hinterher. Gleichzeitig erleichtert das die Orientierung über Strelasund und Kubitzer Bodden am Naturschutzgebiet vorbei bis zur Südspitze von Hiddensee. Hier liegt nach ca. 16 km das erste Meldeboot, dem ich lautstark „vier“ entgegenrufe. Ich liege deutlich unter den drei Stunden und fahre weiter am Fahrwasser entlang auf die Ostsee. Um die Seeseite von Hiddensee zu passieren, sind die Windbedinungen tatsächlich ideal. Wind und Wellen schieben mehr oder weniger. Leider bricht mein Skegboot bei den Wellen von schräg hinten immer mal wieder aus und ich muss es mühsam mit Korrekturschlägen wieder auf Kurs bringen. Ein-, zweimal gelingt mir sogar ein Surf, der mich zu den mittlerweile nur noch zwei Einern immer wieder gut aufschließen lässt. Auf Höhe Kloster schippert Meldeboot Nummer zwei hin und her, was das Heranfahren ein wenig erschwert. Wieder rufe ich eine „vier“ in den Wind hinein. Um die Nordspitze herum geht zum einzig sinnvollen Pausenplatz auf der Runde. Am „Toten Kerl“ rasten bereits weitere „Männer mit dem grimmigen Blick“, unter anderem Gero. Der hatte sich anfangs recht schnell abgesetzt und sticht gerade wieder in See. Lange pausiere ich auch nicht und sitze eine Bananenlänge später wieder im Boot und steuere Meldungsboot drei an, dem ich routiniert nicht viel mehr als „vier“ zu sagen habe.
Was vorhin als Rückenwind noch hilfreich oder ertragen war, bläst mir jetzt mit Windstärke vier direkt entgegen. 32 km liegen noch vor mir. Gero ist schon wieder in weiter Ferne verschwunden. Aber der Kollege im roten Skegboot, den ich eben noch bei der Pause „überholt“ habe, zieht jetzt wieder an mir vorbei. Bestens – habe ich wieder jemanden zur Orientierung. Mitzuhalten,versuche ich gar nicht erst. Die Streckenführung schlägt kurz einen Haken am Fahrwasser entlang und um Naturschutzgebiete herum. Ab jetzt geht es fast schnurgerade nach Süden. Der Wind denkt gar nicht daran, wie angekündigt zu drehen. Das heißt Knochenarbeit. Der Blick aufs GPS sorgt für Frustration. Die Geschwindigkeit sinkt auf unter fünf km/h – mit ihr meine Motivation und Laune. Immer wieder sporne ich mich an, mit höherer Frequenz am Paddel zu ziehen und meinen Puls wieder ins Soll zu treiben. Lange halte ich das jedoch nie durch, sitze ich doch recht ungemütlich im Boot und schippe immer wieder büschelweise Kraus auf’s Boot. Immer wieder ertappe ich mich dabei, anhand der noch verbleibenden Kilometer auszurechnen, wie lange ich noch im Boot sitzen werde. Aufbauen geht anders. Nachdem auch das rote Skegboot in weiter Ferne verschwunden ist, lasse ich ein Zweierkajak passieren und hänge mich an die beiden. Den letzten Meldepunkt hätten wir beinahe übersehen. Das angekündigte Segelboot hat sich zwischen seinesgleichen gut versteckt, letztendlich aber doch durch die gehisste gelbe Tonne verraten. Mit einem Bogen steuere ich auch dieses Boot an. Trotz der widrigen Umstände bleibe ich auch hier in der Sollzeit und rufe der Besatzung von Meldeboot Nummer vier die obligatorische „vier“ entgegen. Man bietet mir noch Wasser und Essen an. Mein Bananendampfer ist aber noch reichlich gefüllt und auch die zweite Trinkblase ist noch fast voll. Also geht es auf die letzten 15 km.
In der Ferne ist bereits die Skyline von Stralsund im Dunst zu sehen, während sich eines der Begleitboote neben mich setzt und den weiteren Weg begleitet. Jetzt gibt es immer wieder Schauer. Ich will zumindest unter 11 Stunden bleiben und vor allem nicht mehr drei Stunden im Boot sitzen. Also steigere ich mein Tempo nochmal. Irgendwann scheint der Wind doch noch ein wenig zu drehen, denn hinter dem Parower Haken ist es für die letzten fünf Kilometer fast windstill. Endlich kommt der Steg in Sichtweite. Die Wartenden beginnen, mich auf den letzten Metern anzufeuern und schließlich ertönt ein erlösendes Signalhorn, als ich die Startnummer vier über die Ziellinie paddle. Fertig mit der Welt lasse ich zwei freundliche Helfer mein Boot aus dem Wasser tragen. Erst langsam kommt Freude auf, dass ich auch die letzten 15 km durchgezogen habe und nicht der ständigen Versuchung erlegen bin, aufzugeben. Auch meinen festen Entschluss, dass das heute neben meiner ersten auch sicher meine letzte Teilnahme am Hiddensee-Marathon war, revidiere ich im Laufe des Abends und spätestens nach einer Nacht, in der ich richtig gut schlafen konnte.
Den Veranstaltern gebührt ein dickes Dankeschön! Gerade bei den anspruchsvollen Bedingungen war es beruhigend, immer eines der zahlreichen Begleitboote in der Nähe zu wissen. Die Abendgestaltung bei Grillfleisch und Kaltgetränken ließ wenig zu wünschen übrig, auch wenn wegen allgemeiner Erschöpfung kaum Feierstimmung aufkam. Auf der Rückfahrt am nächsten Morgen wird Gero übrigens nach der Nummer der Tanksäule fragen, für die er die Rechnung begleichen will. „Vier“ werde ich rufen – gelernt ist gelernt…
Nachklapp: Gero hat auf zirpelspinner.me den Marathon aus seiner Sicht verbloggt. Dass er mir lediglich 1000 kcal zum Frühstück empfohlen hat, selbst aber bis zum Anschlag mit Babybrei und Baked Beans gefüllt war, hat ihm offenbar die entscheidende Viertelstunde Vorsprung beschert. Ergebnisliste und Bericht gibt es auch beim Stralsunder KC. Einen weiteren Bericht gibt es beim Hamburger RdE.